Als Lost Footage werden Filme bezeichnet, die vorgeben, Aufnahmen von Personen zu sein, die während ihrer Dreharbeiten spurlos verschwunden oder auf sonderbare Art ums Leben gekommen sind. Viele Zuschauer meinten, dass „Blair Witch Project“ in dieser Hinsicht das Rad neu erfunden hätte. Dem ist nicht so. Bereits Ende der 70er Jahre verwendete Ruggero Deodato diese Stilelemente für seinen Kannibalenfilm „Cannibal Holocaust“. Zudem existierten bereits früher Filme, deren Dramaturgie sich an der Art und Weise von Reportagen orientierte. Als Beispiel sei hier George R. Romeros Klassiker „Night of the Living Dead“ genannt.
„Blair Witch Project“ befreite allerdings die Handlung von allen mithilfe eines Drehbuchs skizzierten dramaturgischen Elementen und ließ nur noch mehr Improvisation zu. Gleichzeitig kam dem Film die Digitalisierung beim Filmdreh zugute. Digitalkameras führen zu einer deutlichen Senkung der Produktionskosten, da man kein physisches Filmmaterial mehr benötigt und verpatzte Szenen daher keine enormen Zusatzkosten verursachen. Zuschauer reagieren auf improvisierte Szenen, in denen unbekannte Schauspieler agieren, anders als bei einem Spielfilm. Die Rezipienten stellen sich unweigerlich die Frage: Ist das echt? Wichtig hierbei ist natürlich ein passendes Marketing. Ein Film, der sich als Reportage bzw. als Lost Footage verkaufen möchte, muss so tun, als wäre er Teil unserer Realität. Bei „Blair Witch“ geschah dies bekanntermaßen durch Gerüchte, die gezielt in Foren verbreitet und auf einer extra gestalteten Homepage gesammelt wurden. Somit war das Marketing auf einen einfachen psychologischen Reiz ausgelegt: auf die Anstachelung der Neugierde. – Verbunden natürlich mit der gezielten Aufrechterhaltung von Ungewissheit, was die Echtheit des eigentlichen Filmmaterials beinhaltet.
Der Erfolg des Films führte innerhalb kürzester Zeit zu einer Unzahl an weiteren Filmen dieser Art. Dabei erweist sich das Subgenre Lost Footage zwar Genre übergreifend, doch beziehen sich die meisten Produktionen auf das Horrorgenre. Dies hat wiederum Kostengründe. Denn nichts ist so günstig wie einen Horrorfilm zu drehen. Auch die großen Studios versuchten, auf den Zug aufzuspringen und brachten mit Special Effects überfrachtete Produktionen auf den Markt.
Das Konzept, unbekannte Schauspieler für einen quasi-dokumentarischen Film zu verwenden, ist nichts Neues. Man könnte sogar soweit gehen, Lost Footage als eine Art Reanimierung des italienischen Neorealismus zu bezeichnen. Auch damals wurde gezielt mit Laiendarstellern gearbeitet. Das Ziel des Films war es, die Realität so exakt wie möglich wiederzugeben. Manche der damaligen Regisseure vergaßen dabei, eine Geschichte zu erzählen. Der Filmkritiker André Bazin erwähnte z.B. einen Regisseur, dessen größter Wunsch es war, einen Film über einen Menschen zu drehen, der nichts erlebt. In dieser Hinsicht kommen die Lost Footage-Filme dem Konzept des Neorealismus ziemlich nahe. Sie versuchen, ein genaues Abbild der Realität zu schaffen, und einen Großteil des Films geschieht absolut nichts. Auch wenn dies ironisch klingt, so trifft dies dennoch auf die meisten Lost Footage-Filme zu.
Die Vielzahl der Filme, die innerhalb dieses Subgenres produziert werden, bedeutete jedoch auch eine Große Differenz in der Qualität der Produktionen. Billig muss nicht bedeuten, dass ein Film schlecht ist. Aber es heißt auch, dass nicht jeder, der weiß, wie man eine digitale Handkamera bedient, ein guter Regisseur ist. Im folgenden sollen ein paar bekannte und weniger bekannte Lost Footage-Filme als Beispiele aufgeführt werden:
St. Francis Experiment (2000) des Regisseurs Fred Nicolaou ist ein Film, in dem so gut wie nichts passiert. Eine Gruppe Wissenschaftler möchte eine Nacht in einem Geisterhaus verbringen, um Beweise für die angeblichen Spukphänomene zu sammeln. Der Film besteht in der Hauptsache aus albernem Herumrennen und langweiligen Dialogen. Der Film führte dazu, dass Nicolaou wieder zu dem zurückkehrte, was er wirklich kann: der Tätigkeit als Filmeditor.
Paranormal Activity (2007) stammte aus der Feder des Regisseurs Oren Pali. Mit zwei völlig unbekannten Schauspielern drehte er eine Geschichte über Spukphänomene in einem Haus. Das von den Phänomenen geplagte Ehepaar möchte die Ereignisse dokumentieren. In dem sehr erfolgreichen Film passiert nicht sonderlich viel. Dennoch sorgte er beim Publikum für reichlich Gänsehaut. Der Film ist durchaus interessant und er zeigt vor allem, dass keine gigantischen Budgets notwendig sind, um die Leute ins Kino zu locken.
Die spanische Produktion Rec aus demselben Jahr steht dem Film Oren Palis in nichts nach. Regisseur Paco Plaza gelingt es, mit einer Mischung aus postmodernen und Urängsten den Zuschauern Furcht einzujagen. Die Angst vor der Dunkelheit mischt sich mit der Aversion vor dem Fremden, auch wenn dieser der eigene Nachbar ist. Die Geschichte zweier TV-Reporter, die bei einem Feuerwehreinsatz in einem Haus eingeschlossen werden, über das auf einmal Quarantäne verhängt wird, dürfte zum Besten zählen, was der moderne spanische Horrorfilm bisher auf die Beine gestellt hat. Produziert hat diesen Film (wie soll es anders sein) Julio Fernandez, der mit Filmax die größte spanische Produktionsfirma innehat und eine Art Quasimonopol betreibt. Leider ging die mit Brian Yuzna ins Leben gerufene Produktionsfirma Fantastic Factory bereits nach einer Handvoll Filme baden. Dennoch ist und bleibt Spanien die größte europäische Produktionsstätte für Horrorfilme.
Mit Cloverfield (2008) nahm sich das Big Budget-Kino dem Lost Footage-Thema an. Die Geschichte über ein riesiges Monster, das New York heimsucht, ist durchaus unterhaltsam und ein Großteil der Effekte sehr gelungen. Die Story jedoch oder besser das Handeln der Figuren ist sicherlich unlogisch. So stellt sich die Frage, wieso einer der Protagonisten auch in höchster Gefahr einfach die Kamera laufen lässt. Bespickt ist der Film mit einer herben Kritik an der US-Regierung und Anspielungen auf die japanischen Monsterfilme. Die Optik aber ist dann doch zu sehr auf das Effekt-Kino konzipiert, sodass die Mokumentary zum großen Teil nicht funktioniert. Eine objektive Kamera hätte es auch getan.
Troll Hunter (2010), eine norwegische Produktion, spielt mit dem Gedanken, dass in den Wäldern Norwegens tatsächlich Trolle hausen. Eine Gruppe junger Leute machen Jagd auf diese Fabelwesen, was heißt, sie versuchen Filmaufnahmen von ihnen zu machen. – Mit seiner Länge von weit über 90 Minuten ist der Film eindeutig zu lang, was dazu führt, dass die Handlung gedehnt und im wahrsten Sinne des Wortes langatmig wird. Die Effekte und die Geräusche sind trotzdem hervorragend inszeniert. Auch der ein oder andere Gag ist gut plaziert. Insgesamt aber hätten 70 Minuten dem Film besser getan.
Auch Südkorea versuchte sich in dem Lost Footage-Subgenre. Eine der ersten Produktionen stammte aus dem Jahr 2010 und trug den Titel Haunted House Project. Leider ist der Film alles andere als originell. Er ist sogar beinahe so schlecht wie das oben erwähnte „St. Francis Experiment“. Es war ein Versuch, der dann im Jahr 2013 eine überaus geniale Umsetzung erfuhr.
Gemeint ist der TV-Film Guashin sori zatgi (auf Deutsch in etwa „Auf der Suche nach unheimlichen Geräuschen“). Diese 50 minütige Produktion beginnt völlig harmlos, um sich dann mehr und mehr in einen wahren Albtraum hineinzusteigern. Die Schlussszene ist an Unheimlichem kaum zu überbieten. Es geht um ein Fernsehteam, das in einem alten Bauernhaus Aufnahmen von Spukgeräuschen machen soll. Das Team verbringt eine Nacht darin und nimmt tatsächlich sonderbare Geräusche auf. Es ist schade, dass dieser Film wahrscheinlich nie in Deutschland erscheinen wird. Hier waren wirkliche Könner am Werk.
Auch Japan produzierte Lost Footage-Filme. Neben dem international bekannten Noroi , der zwar durchaus witzig ist, jedoch als gefakte Dokumentation überhaupt nicht funktioniert, war es 2013 der Film Cult, der die Gemüter – diesmal auf sehr negative Weise – berührte. Es geht um eine Gruppe sogenannter Idols, die als TV-Event bei einem Exorzismus dabei sein sollen. Dummerweise fährt der Dämon in eine der drei jungen Frauen. Der Film präsentiert J-Horror auf dem bisherigen Tiefststand. Nicht nur die Dramaturgie ist schlecht. Die Optik, die Effekte, einfach alles vermitteln den Eindruck, ein Amateur habe diesen Film in seinem Hobbykeller gedreht. Doch weit gefehlt. Hinter diesem Machwerk steht niemand anderer als Koji Shiraishi, der 2007 mit „Carved“ einen hervorragenden Film abgeliefert hatte. Was den guten Mann dazu bewegt hat, einen dermaßen schlechten Film zu drehen, sei einmal dahingestellt. Sicher ist nur, dass „Cult“ ziemlich viele Zuschauer verärgert hat.
The Borderlands (2013) schließlich erregte bei Filmkritikern großes Aufsehen. Das Fangoria Magazin hält Elliot Goldners Debüt sogar für einen der besten Lost Footage-Filme der letzten Jahre. Die englische Produktion handelt von einer Kirche, in der sonderbare Dinge vor sich gehen. Ein vom Vatikan gesandtes Team soll den Fall untersuchen. Den Enthusiasmus können wir nicht nachvollziehen. Der Film ist zwar gut gemacht, doch ist er alles andere als originell. Möchte man die Handlung literarisch verorten, so vollzieht Goldner eine Mischung aus M. R. James und H. P. Lovecraft. Zudem hätte der Film besser ohne subjektive Kameras funktioniert.
Man sieht, dass sich innerhalb des Subgenres Lost Footage Filme unterschiedlichster Qualität versammeln. Dabei zeigt sich auch, dass nicht alles, was billig ist, billig ist. Ob dies nun das Budget oder im übertragenen Sinne die Handlung betrifft. Schon allein aufgrund des Vorteils einer geringen Finanzierung wird sich dieses Subgenre auch für zukünftige Regisseure als Sprungbrett für eine spätere Karriere erweisen. Junge Filmemacher haben dadurch die Möglichkeit, auf diese kostengünstige Weise ihr Können zeigen. Und wenn ein Film dann auch gut wird, haben auch die Zuschauer etwas davon.